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ProDeMa: Damit die Situation erst gar nicht eskaliert

Tom Behrendt, Lisa-Marie Mayr und Michael Prange (auf Foto v.l.n.r.)

Jeder Mensch ist unterschiedlich - und reagiert entsprechend seinem Naturell. In unserem alltäglichen Miteinander entwickeln sich immer wieder auch hochemotionale Momente, die durchaus in einem konfrontativen Gegeneinander eskalieren können. Das gilt auch für Menschen mit Behinderungen und die Herausforderungen einer professionellen Betreuung. 

Gewalt – in sprachlicher wie körperlicher Ausdrucksform – stellt eine mentale Extremsituation für alle Beteiligten dar. Wie also geht man damit um, um sich selbst und auch den betreuten Menschen zu schützen? Eine Antwort auf diese Frage liefert ProDeMa. Das Konzept hat Vermeidung und Umgang mit Gewalt im Arbeitsumfeld zum Ziel. Bei der Lebenshilfe Lindau werden drei Betreuer zu ProDeMa-Multiplikatoren ausgebildet. Tom Behrendt, Lisa-Marie Mayr und Michael Prange (auf Foto v.l.n.r.) erklären, worum es dabei genau geht – und warum es sich auch um ein Tabu-Thema handelt.

ProDeMa steht für „Professionelles Deeskalationsmanagement“. Ihr habt damit Erfahrung gemacht. Was genau kann man sich darunter vorstellen?

Tom Behrendt: Es ist ein Leitfaden mit sieben Deeskalationsstufen, um Situationen entschärfen zu können, bevor sie eskalieren. Aggressive Verhaltensweisen von Mitarbeitern mit Behinderung können schon im Vorfeld gedeutet und idealerweise verhindert werden. 

Und wie?

Michael Prange: Eine Eskalation deutet sich oft schon in der Entstehung an, sei es durch Mimik, durch Gestik oder bestimmte Verhaltensweisen. Wenn es kognitiv möglich ist, kann man verbal deeskalieren. Das klappt aber leider nicht immer.

Was dann?

Prange: Man kann beispielsweise den aggressiven Menschen separieren oder mit Beschäftigung ablenken. Es gibt aber auch sogenannte „Abwehr- und Fluchttechniken“, die man zum Selbstschutz anwenden kann, falls man tatsächlich in eine gefährliche Situation geraten sollte. Dazu gehören auch Handgriffe, die dem Selbstschutz dienen sowie dem Schutz des Angreifenden. 

Lisa-Marie Mayr: Es geht auch darum, alte Verhaltensmuster bei sich selbst abzulegen und neu zu reflektieren. Aber auch das Arbeitsumfeld muss neu bewertet werden, die Strukturen und Rahmenbedingungen. Es muss mit Blick auf die Betreuten partizipativ gedacht werden, um Gewalt präventiv zu vermeiden.

Habt Ihr bereits Erfahrungen mit ProDeMa sammeln können?

Behrendt: Ja. Seit ich die Schulung gemacht habe und die Maßnahmen anwenden kann, sehe ich, dass es funktioniert. Und es funktioniert auf einer spannenden Ebene, da der Mensch mit Behinderung im Mittelpunkt steht. Man selbst reflektiert mehr und versucht, die Gründe für die Aggression zu verstehen. In der vierten Deeskalationsstufe lernt man, sich selbst zu schützen, sich passend zu verhalten und im Gespräch zu deeskalieren. Und das funktioniert. Es ist ein systemischer Leitfaden, den ich bisher nicht hatte, der mir aber sehr viel gibt. 

Mayr: Für mich war es nicht so ganz neu, weil ich schon viel mit gewaltfreier Kommunikation nach dem US-Psychologen Marshall Rosenberg arbeite. Aber es hat schon noch mal zusätzlich für die Situationen sensibilisiert. Und ich merke auch, dass bei Kolleginnen und Kollegen ein Interesse besteht. Man fühlt sich für eine Eskalation jedenfalls definitiv besser vorbereitet.

Prange: Ich finde das Deeskalationskonzept von ProDeMa auch sehr sinnvoll. Man entwickelt mit der Zeit ja eine gewisse Betriebsblindheit und reflektiert vielleicht nicht mehr ausreichend, weil man zu verkopft an Konfliktsituationen herangeht. 

Kannst Du ein Beispiel nennen?

Prange: Wenn mich ein Betreuter etwa als Arschloch bezeichnet, dann nimmt man das ja erst mal persönlich und agiert auch entsprechend. Wenn man aber lernt, das distanziert einzuordnen, kann man anders handeln. Die Handlung ist einfach eine andere, wenn man aufgezeigt bekommt, solche Dinge nicht persönlich zu nehmen, sondern direkt mit der Situation zu arbeiten, die zu der Beleidigung geführt hat. Dabei lernt man den Umgang mit der Eskalation und kann sie eventuell sogar gleich ganz vermeiden.

Mayr: Gewalt kann ein Ausdruck von Not sein, für ein unbefriedigtes Bedürfnis. Das kann das Bedürfnis nach Ruhe sein, nach Aktivität oder auch nach Gerechtigkeit. Kommen dann als Reaktion Beleidigungen, lernt man, diese auf die Situation zu beziehen und nicht auf sich als Person. 

Gewalt am Arbeitsplatz in sozialen Berufen. Reden wir hier auch über ein Tabu-Thema in der Arbeitswelt?

Behrendt: Das sehe ich schon so, ja. Es ist oft ein klassischer Reflex zu sagen, dass man das in diesen Berufen eben aushalten müsse, wenn man mal bespuckt, beleidigt oder gar geschlagen wird. Das muss aber niemand über sich ergehen lassen. Wenn man die Probleme stattdessen klar benennt und den professionellen Umgang mit ihnen lernt, dann kann man auch etwas bewegen. 

Prange: Ich denke auch, dass es ein Tabu-Thema ist. Spucken, schlagen, kratzen – das gehört ja zu unserem Berufsfeld dazu, heißt es oft. Das aber ist falsch. So etwas kann passieren, aber man muss es nicht als normal akzeptieren. Und man kann vorbeugen, dass es erst gar nicht so weit kommt. 

Es gibt ja auch Situationen, in denen man körperlich unterlegen ist. Das kann für männliche Betreuer gelten, wird aber für weibliche Betreuer definitiv ein Thema sein. Bietet ProDeMa auch hier Hilfestellungen, Lisa-Marie?

Mayr: Ja. Denn es gibt schon allein mehr Sicherheit, wenn man als Frau eine Technik im Hinterkopf hat, mit der man es probieren kann, wenn man physisch unterlegen ist. Vor allem, wenn man diese Technik dann auch umfassend geübt hat. Hier sprechen wir von „beziehungsschonenden“ Maßnahmen, bei denen Verletzungen vermieden werden.

Was sind denn die häufigsten Auslöser für Konfliktsituationen?

Behrendt: Viele Situationen entstehen gar nicht aus ursprünglicher Aggression, sondern aus Frustration. Speziell dann, wenn sich die Person mit ihrem Problem nicht mitteilen kann. Wenn man das weiß, kann man anders reagieren. Dazu gehört auch eine Verhaltensdokumentation. Wenn ich in den Dienst komme und weiß, dass Person A heute den ganzen Vormittag schon aggressiv war, dann gehe ich gleich mit einem ganz anderen Verhalten zu ihr hin, passe mich an und gehe entsprechend auf sie ein.

Führt das auch zu einem höheren Sicherheitsgefühl am Arbeitsplatz?

Prange: Auf jeden Fall. Das gilt aber grundsätzlich für Arbeit mit Menschen, da sind Maßnahmen zur Deeskalation immer sinnvoll. Deshalb fungieren wir auch als Multiplikatoren für unsere Kolleginnen und Kollegen und schulen sie für den Umgang mit solchen Situationen. 

Behrendt: Gerade in Situationen, in denen man selbst aufgewühlt ist. Handlungen, die dann aus dem Bauchgefühl entstehen, können richtig sein, sie können aber auch total in die falsche Richtung gehen. Wenn man dann auf ein deeskalierendes Verhalten zurückgreifen kann, das man trainiert hat und von dem man weiß, dass es funktioniert, dann gibt auch mir das ein enormes Gefühl von Sicherheit. Das ist schon genial. 


Michael Wollny
Öffentlichkeitsarbeit
michael.wollny@lh-lindau.de