Der bundesweite Aktionstag „Schichtwechsel“ hätte statt an einem Donnerstag auch zu einem nasskalten Wochenstart stattfinden können, die hohe Arbeitsmoral aller Beteiligten bei der Lebenshilfe Lindau und dem Lindauer Jobcenter wäre schließlich durch keinen Montags-Blues getrübt worden. Zu groß war die Neugier und Motivation, mal etwas völlig Neues auszuprobieren, die berufliche Perspektive zu wechseln und in die Job-Rolle anderer Personen zu schlüpfen.
In ganz Deutschland tauschten an diesem 10. Oktober rund 4.200 Menschen ihre Arbeitsplätze, darunter etwa 2.400 Werkstattbeschäftigte mit Behinderungen und circa 1.800 Mitarbeitende von Unternehmen und Behörden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Im Landkreis Lindau gab es den Schichtwechsel zwischen dem Jobcenter Lindau und der Lindauer Lebenshilfe-Werkstätte.
“Die Arbeit im Büro hat Spaß gemacht, alle waren sehr nett.” - Manuel Müller
Aus dem Jobcenter ließen sich Geschäftsführerin Susanne Müller-Koberstein und ihre Stellvertreterin Christiane Werner auf die Herausforderungen in der Kabelmontage sowie der Metallverarbeitung ein. Aus der Lindauer Werkstatt wechselte im Gegenzug Manuel Müller auf den Chefsessel in der Geschäftsführung. Dort wurde Manuel von den Mitarbeitenden herzlich aufgenommen und mit spannenden Tagesaufgaben betraut. “Die Arbeit im Büro hat Spaß gemacht, alle waren sehr nett”, erzählt er. Manuel fühlte sich außerordentlich wohl und bedankte sich am Ende des Tages mit einem echten „Boss Move“ zum Schmunzeln: Er unterzeichnete für die komplette Belegschaft qua seines Interims-Amtes einen Urlaubsantrag für eine gemeinsame Reise nach Hawaii. “Das war meine Idee", meinte Manuel später und betonte: "Den Onkel auf Hawaii gibt's wirklich!”
Tätigkeiten, die er beim Schichtwechsel im Jobcenter ausführen durfte, etwa den Posteingang bearbeiten, könne er sich auch künftig vorstellen, meinte er. Seinen Arbeitsplatz in der Lindauer Werkstätte in den Bereichen Montage und Verpackung sowie Kabelmontage möchte Manuel dennoch nicht missen. “Es ist ein sicherer Arbeitsplatz, der mir Spaß macht. Meine Abteilungsleiter sind cool und ich habe hier Freunde. Arbeiten in der Werkstatt ist besser als zu Hause rumsitzen.”
“Was oft übersehen wird: Die Werkstätten erfüllen eben auch einen pädagogischen Auftrag. ” - Esther Hofmann
Mit ähnlicher Vorfreude, einer humorvollen Grundeinstellung und viel Respekt vor den teils kniffligen Arbeitsschritten machten sich auch Susanne Müller-Koberstein und Christiane Werner ans Werk. Im Vorfeld wurden sie von Lebenshilfe-Geschäftsführerin Esther Hofmann und Daniel Dentler vom Berufsbildungsbereich der Werkstätte durch die Produktion in Lindau geführt. Beide Geschäftsführerinnen nutzen den Tag auch zum Austausch von Erfahrungen mit den komplexen Herausforderungen abseits des allgemeinen Arbeitsmarktes.
„Was oft übersehen wird“, betonte Hofmann, „die Werkstätten erfüllen auch einen pädagogischen Auftrag. Die Mitarbeitenden erweitern ihren persönlichen Erfahrungshorizont durch die Arbeit, haben aber auch ein wertvolles soziales Umfeld". Hier haben die Werkstätten eine wertvolle Brückenfunktion auf dem Weg in den Ersten Arbeitsmarkt. Denn eine durchweg inklusive Arbeitswelt sei zwar ein Idealziel, die Realität davon aber noch ein ganzes Stück entfernt, zumal auch weite Bereiche des öffentlichen Lebens noch nicht wirklich inklusiv gestaltet seien.
“Es ist gut, dass so etwas gibt, gerade auch im Kontext Arbeit und Inklusion.” - Susanne Müller-Koberstein
Die Werkstätten führen Menschen mit einer Behinderung durchaus an den ersten Arbeitsmarkt heran. Dass ein Übergang dann auch nachhaltig glückt, ist aber keineswegs garantiert. „Denn”, so gibt Esther Hofmann zu bedenken, „es gibt auch viele, die dem nicht gewachsen sind. Und es gibt jene, die es zwar wären, aber nach einem Versuch auf dem ersten Arbeitsmarkt wieder in das gewohnte Umfeld der Werkstätte zurückkehren möchten“, berichtet die Geschäftsführerin der Lebenshilfe Lindau aus Erfahrung. Für diese Menschen bieten die Werkstätten ein wertvolles Habitat aus Arbeit und sozialem Raum.
Auch Susanne Müller-Koberstein betonte den Wert der Werkstätten. „Es ist gut, dass es so etwas gibt, gerade auch im Kontext Arbeit und Inklusion.“ Die Tätigkeiten seien mitunter durchaus anspruchsvoll, böten aber Menschen unter Anleitung und sozialer Betreuung eine sinnvolle Arbeit, die eigentlich als beschäftigungsunfähig gelten.
Davon konnten sich auch die beiden Jobcenter-Leiterinnen überzeugen. Auf die spontane Frage, was sie aus dem Schichtwechsel für sich mitnehmen wird, antwortet Müller-Koberstein: „Das Sinnhafte in der Arbeit der Lebenshilfe.“